Der Wasserdrache Awarua

Es war einmal vor vielen hundert Jahren, da lebte in der Bucht von Porirua ein Wasserdrache namens Awarua.

Damals war die Bucht von dicht bewaldeten Hügeln umgeben, und sie war viel tiefer als heute. Awarua schwamm oft in das Meer hinaus und besuchte andere Tiere und tauchte nach leckeren Fischen. Doch er kehrte immer wieder in die Poriruabucht zurück, denn da war er zuhause.

Awarua’s bester Freund hiess Rereroa und war ein Albatross. Rereroa flog oft über die Bucht hinweg und hielt nach Awarua Ausschau. Wenn er ihn tief unten entdeckte, flog er mit weit ausgebreiteten Flügeln tief über das Wasser und stiess einen kräftigen Albatross-Schrei aus. Dann freute sich Awarua.

Rereroa und Awarua unterhielten sich stundenlang. Am liebsten hörte Awarua Geschichten darüber wie es war, wochenlang über das Meer zu fliegen ohne Land zu sehen. Albatrosse können nämlich auf dem Wasser schlafen, wenn sie müde sind. Rereroa breitete dann seine Flügel aus, liess sich den Wind durch die Federn fahren, und führte vor wie er nach so einer Pause wieder losfliegen würde.

Awarua hatte auch Flügel, aber sie waren ziemlich klein und liessen sich nicht so gut ausstrecken. Er versuchte, Rereroa nachzuahmen, doch er konnte nicht fliegen und schämte sich deshalb sehr.

“Ach, weisst Du,” sagte Rereroa um Awarua zu trösten, “so wichtig ist fliegen gar nicht. Ich wünsche mir manchmal ein Zuhause zu haben und am selben Ort bleiben zu können, so wie Du.”

Doch Awarua glaubte ihm nicht. “Ach Rereroa,” bettelte er, “wärst Du nicht mein bester Freund würde ich nicht fragen, aber willst Du mir nicht das Fliegen beibringen?”

Rereroa dachte dass das unmöglich wäre, doch das mochte er seinem Freund nicht sagen. Stattdessen versuchte er sich herauszureden: “Ich muss Futter finden, sonst verhungere ich. Und ich muss fliegen um zu überleben. Ich kann nicht einfach hierbleiben!”

Doch Awarua entgegnete: “Ich teile meine besten Fische mit Dir, und wenn Du mich das Fliegen lehrst musst Du mir ja viel vorführen, also kannst Du auch hier genug fliegen.”

Da fiel Rereroa keine Ausrede mehr ein, und so machte er sich daran Awarua das Fliegen zu lehren.

“Nun gut,” sagte er, “zuerst müssen deine Flügel kräftiger werden. Folge mir und tue genau das was ich auch tue.”

Er schlug mit den Flügeln und paddelte mit den Füssen durch das Wasser, einmal um die ganze große Bucht. Awarua tat es ihm nach und schlug auch mit den Flügeln. So paddelten und flatterten sie einmal um die Bucht bis sie wieder dort ankamen wo sie angefangen hatten. Awarua war sehr erschöpft, doch er wollte alles tun um fliegen zu lernen.

“Mach Dir nicht daraus, wenn Albatross-Küken fliegen lernen, geht es ihnen am Anfang genauso.” sagte Rereroa.

Dann flog Rereroa davon und suchte am Ufer nach zwei großen Steinen. Er brachte sie in seinem Schnabel zu Awarua und legte sie ihm auf die Flügel.

“Strecke deine Flügel aus so weit es geht,” sagte er, “Du musst starke Flügel bekommen.” Awarua tat wie ihm geheißen. Er streckte seine kleinen Flügel aus so gut es ging und machte sie so gerade wie er konnte. “Nun folge mir und tue genaus das was ich auch tue.” Rereroa schlug langsam mit den Flügeln auf und nieder, und Awarua tat es ihm nach.

So ging es tagein, tagaus. Abends teilte Awarua seinen Fisch mit Rereroa, und jeden Tag wurden seine Flügel kräftiger.

Eines Tages war es dann soweit. Awarua konnte um die Bucht flattern ohne aus der Puste zu kommen, und das Flügelschlagen machte ihm trotz der schweren Steine auf den Flügeln keine Schwierigkeiten mehr.

“Heute versuchen wir über die Bucht zu fliegen.” sagte Rereroa.

Awarua nahm im Wasser Anlauf so gut es ging, paddelte mit den Füßen und schlug mit den Flügeln so schnell er konnte. Er sauste über die Wasseroberfläche, und bald hoben sich auch seine Füße etwas aus dem Wasser. “Ich fliege!” rief er laut. “Sieh doch, Rereroa, ich fliege!”

Doch weil er nicht hinsah wo er hinflog, machte er eine Bruchlandung auf dem Hang des Whitireia-Hügels, und schlug eine große Schneise in den Wald.

“Mach Dir nichts draus,” sagte Rereroa, “versuche es gleich noch einmal.”

Awarua machte einen neuen Versuch. Er paddelte mit den Füßen, schlug mit den Flügeln so schnell er konnte, und diesmal hob er sich ganz aus dem Wasser. “Sieh doch, Rereroa, ich fliege!” rief er, “ich fliege wirklich!”

Doch weil er wieder nicht aufpasste, flog er mit voller Wucht gegen die Insel Mana, und drückte den Hügel darauf ganz platt.

Awarua und Rereroa übten noch den ganzen Tag, und am Abend flog Awarua fast so gut über der Bucht herum wie ein Albatross. Auch wenn er nicht wochenlang über das Meer fliegen konnte wie Rereroa, freute er sich sehr dass er mit Ausdauer und Geduld endlich seinen Traum erreicht hatte.

Wann immer Rereroa Awarua nun besuchte, flogen sie zusammen Kreise über der Bucht von Porirua. Die Schneise im Wald des Whitirei-Hügels kann man bis heute sehen, und die Insel Mana ist von Awarua’s Bruchlandung für immer ganz flach geblieben.


Quelle: Traditionelle Legende aus Neuseeland, übersetzt von Katja

 

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